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Im Zweifel für den Selbstzweifel

Sind die heutigen Rechtsnationalisten  das Produkt der antiautoritären  Erziehung? Sind AfD-Vordenker  wie Marc Jongen oder Götz Kubitschek  entlaufene Zöglinge der  Frankfurter Schule von Theodor  W. Adorno bis Jürgen Habermas?  Haben sie die Kritische Theorie gekapert und deren  Grundsatz, alles Bestehende zu hinterfragen, rechtsradikal  gewendet?

von Maximilian Probst

Diese These vertrat in der vergangenen Woche (ZEIT Nr. 29) der Publizist Yascha Mounk. Er lieferte auch eine Gebrauchsanweisung mit, wie darauf zu reagieren sei. Wenn die Neue Rechte den liberalen Demokraten Adorno wegnimmt, dann sollten die Demokraten ihnen die Liebe zum Vaterland abspenstig machen: Es müsse jetzt »Aufgabe der deutschen Pädagogik sein«, folgert Mounk, »einen moderaten, freiheitsliebenden Patriotismus zu stiften«.

Losgelöst von ihrem Kontext ist an Mounks Gedankenfigur einiges dran. Begriffe wie »alternativ«, Konzepte wie das der »GegenÖffentlichkeit«, Interventionen, Demonstrationen – was früher als links galt, riecht in Zeiten von Montagsmärschen, den Identitären und Facebook-Gruppen, die sich um Fake-News bilden, stark nach rechts außen. Umgekehrt haben auch linke Bewegungen immer wieder auf der Gegenseite geplündert. Der Sozialismus etwa entstand überhaupt erst aus der Aneignung der Kapitalismuskritik, die romantisch-reaktionäre Kreise am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erneuerten die Grünen diese Kritik, indem sie den Konservativen das Thema des Naturschutzes aus den Händen nahmen.

Geschichte steht nicht still. Man kann sich in der Tat fragen, ob die »Annahmen der Nachkriegszeit « noch helfen oder ob sie vielleicht »allzu bequem« geworden sind, wie Mounk glaubt. Mit seiner Idee, dass es heute die Rechtsnationalen seien, die alles hinterfragen, und dass ihnen das antiautoritäre Bildungsideal Tür und Tor geöffnet habe, macht es sich Mounk allerdings selbst allzu bequem. Derlei Abgesänge auf die Kritische Theorie sind längst ein leiernder Schlager. Den Anfang machte vor fast 20 Jahren Peter Sloterdijk, der die Denktradition der Nachkriegszeit als scheinheiligen Tugendterror abtat. Ins selbe Horn blies, auch schon fünfzehn Jahre her, Bruno Latour. Dem französischen Soziologen zufolge hat sich das Hinterfragen so sehr verselbstständigt, dass es heute zum Beispiel in Form von Klimaskepsis dringend notwendiges Handeln angesichts der Erderwärmung blockiert.

Ähnlich wie Sloterdijk und Latour entstellt Mounk den Begriff der Kritik bis zur Karikatur. Das zeigt sich daran, wie er seine These von den vermeintlich antiautoritären Rechtsnationalisten belegt: »Gaukelt die >Lügenpresse( ihnen vor, Al- Kaida habe Flugzeuge in das World Trade Center gesteuert, so decken sie auf, dass in Wahrheit die CIA oder der Mossad hinter den Attacken stecke.« Und gleich noch ein Beispiel: »Erinnern Politiker an die Schoah«, beweisen die Rechtsnationalisten umgehend, »dass es wissenschaftlich gar nicht möglich sei, Menschen in Gaskammern umzubringen«. Mounk assoziiert, womöglich versehentlich, kritisches Hinterfragen mit den Neuauflagen der alten antisemitischen Verschwörungstheorie. Das liest sich zwar herrlich salopp, ist aber in seiner unbedachten Konsequenz besonders unglücklich. Mit derselben Logik könnte man die Protokolle der Weisen von Zion für ein Dokument kritischen Denkens halten und, schlimmer noch, all iene, die den Protokollen auch dann noch glaubten,‘ als sie als Fälschung entlarvt waren – Hitler und Rosenberg etwa -, zu Antiautoritären avant la lettre erklären.

Dieser Unfug lässt sich nur vermeiden, wenn man den fundamentalen Unterschied zwischen Verschwörungstheorie und kritischem Denken im Blick behält. Verschwörungstheorien gedeihen in Umbruchzeiten, die als Krise empfunden werden, und sie blühen auf, wenn das Individuum die Gegenwart als Zumutung empfindet und sich von der Zukunft nichts erhofft. Verschwörungstheorien sind eine perverse Form der Komplexitätsreduktion, die dem Individuum Halt gibt, weil es einen Sündenbock bereitgestellt bekommt: Die Juden sind‘s. Die Flüchtlinge. Die Gutmenschen. Das kritische Denken will das Gegenteil erreichen. Es will, laut Adorno, die Menschen davon abbringen, »ohne Reflexion auf sich selbst nach außen zu schlagen«. Erziehung, folgert der Frankfurter Philosoph, »wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion«. Das heißt: Kritisches Denken will dazu anleiten, den Sündenbock- Mechanismus zu durchbrechen. Es stellt Fragen wie: Was bedeuten meine Handlungen für den anderen? Wer bin ich, dass ich dem anderen eins über die Rübe hauen will? Wer ist dieser andere überhaupt? Was, wenn ich an seiner, an ihrer Stelle stünde?

Dem kritischen Denken geht es um Empathie und damit immer auch um das Aushalten von Komplexität und Ambivalenz. Je mehr man reflektiert, desto mehr Positionen sind mit nachvollziehbaren, sich möglicherweise aber gegenseitig ausschliei3enden Ansprüchen im Spiel. Im Zweifel für den Selbstzweifel: Das ist das Kreuz moderner pluraler Gesellschaften. Das verschwörungstheoretische und rechtsnationalistische Denken möchte sich dieser Komplikation entziehen. Es zielt auf Vereinfachung und affirmiert nichts anderes als den eigenen Stand. So falsch nun die Prämisse von Mounks Gedankenfigur, so irrig ist seine Schlussfolgerung. Profitieren Rechtsnationale von einem patriotischen Vakuum, für das die Kritische Theorie verantwortlich ist? Hat das ständige Hinterfragen von allem das Vertrauen in die demokratischfreiheitlichen Institutionen erschüttert?

Diese Sicht stellt die Dinge auf den Kopf, Wieso gibt es etwa in Polen und Ungarn heute rechtsnationale Regierungen? Länder, in denen nun wirklich kein antiautoritäres Ideal gewütet hat. Wahrscheinlich gilt für Deutschland, dass der Rechtsnationalismus verglichen mit anderen Ländern auch deshalb noch ein Randphanomen ist, weil vor allem in den alten Bundesländern die antiautoritäre Erziehung als Antidot nachwirkt. Dennoch wird ein gefährlicher Nationalismus wohl weiter Zulauf haben, solange eine krisenhafte, technologisch befeuerte Marktwirtschaft sozialstaatliche und unternehmerische Bindungen auflöst, um das Individuum auf der freien Wildbahn kapitalistischer Eigenverantwortung auszusetzen. Dass sich in dieser Situation die Überforderten und Verunsicherten unter das vermeintlich schützende Dach des Nationalismus flüchten, hat die Kritische Theorie genau analysiert. Davor gewarnt hat sie auch. Weil Adorno wusste, dass der Einzelne den gesellschaftlichen Bedingungen kapitalistischer Modernisierung ohnmächtig gegenübersteht, war ihm an der Pädagogik umso mehr gelegen. Auf diesem Feld könnte jeder seinen Teil dazu beitragen, dass ein nationalistisches Verbrechen wie die Schoah sich nicht wiederholt, wie Adorno in seinem Essay Erziehung nach Auschwitz schreibt.‘

Auch heute hat das Erstarken des Rechtsnationalismus wenig mit pädagogischen, viel mit gesellschafüichen Fragen zu tun. Wenn aber Adorno als Antipopulist der Stunde von der Pidagogik wiederentdeckt und an sein Programm, Empathie mittels kritischer Selbstreflexion zu fordern, angeknüpft würde, wäre einiges gewonnen. PR für einen gutartigen Patriotismus braucht es dann nicht mehr. Wer fähig ist zur Empathie, wird sich von selbst allen Institutionen verbunden fühlen – seien sie lokal, national, transnational oder universal -, die der Freiheit und der Würde des Menschen das Wort reden

Quelle: Zeit Nr 30 vom ?. 07. 2017